Bündner Jagdpatrone 10,3 x 60 R

Die Bündner Jagdpatrone 10,3 x 60 R

Autor  Werner Ramseyer

Die Herkunft

Mann sieht der dicken Dame die Herkunft gut an. Es handelt sich um eine 450/400 Englisch Express. Wie diese Patrone in den Kanton Graubünden, den grössten Schweizer Kanton, mit einer langen und heute noch intensiv gelebten Jagdtradition gekommen ist, bleibt allerdings unklar.

Sicher ist, dass diese Patrone bereits um die Jahrhundertwende (1900) von Schweizer Büchsenmachern mit aus Deutschlandbezogenen Komponenten geladen wurde. Das Ende des ersten Weltkrieges brachte dann die Grosse Änderung. Der jähe Wechsel

Von der Kriegs- und Friedensproduktion zwang die beiden Eidgenössischen Munitionsfabriken Altdorf und Thun zur Diversifikation. Mann hat sich dabei abgesprochen. Im Jahre 1919 begann man in Thun mit der Entwicklung und Fertigung von Sportmunition, in Altdorf startete man mit verschiedenen Kalibern von Jagdmunition.

Die Familie der 10,3 x 60 R (von links nach rechts)

    1. Gruppe: 102 TM, 102a V

    2. Gruppe: 170 T, 170 V,170 V mit reduzierter Ladung

    3. Gruppe: 270 T, 270 V, 270 H

    4. Gruppe: RWS KS, RWS VMS, RWS SG

Die 10,3 x 60 R M+FA  Nr. 102  

Einer dieser Patronen war die 10,3 x 60 R Englisch Express. Diese Jagdpatrone führte bei der für den Import und Verkauf von Munition zuständigen Eidgenössischen Pulververwaltung  die Nummer 102. Diese Numerierung wurde dann auch auf den Paketetiketten angebracht. Die erste Zeichnung dieser Patrone datiert vom 22. März 1919. Die 102 ist mit 1,75 g Kornpulver „Engadin“ geladen und verfügt über ein Teilmantelflachkopfgeschoss ( TF). Erst ab 1947 wurde auch eine Patrone mit einem Vollmantelgeschoss (V) gefertigt, welche die Nr. 102a erhielt. Die Produktion der 102a wurde aber bereits im Jahr 1959 wider aufgegeben, während die 102 bis 1986 hergestellt wurde.

10,3 x 60 R  M+FA  Nr. 170

Bald einmal forderten die Jäger eine präzisere Patrone mit höherer Leistung und gestreckterer Laufbahn. Die Entwicklung zu einer neuen Patrone begann bereits im Jahre 1926. Die neue Patrone mit der Bezeichnung Nr. 170 Modell 30 (1930) war mit 3,9 g Blättchenpulver geladen und verfügte über ein wesentlich schwereres ausgesprochen langes Geschoss. Die Patrone wurde sowohl mit Teilmantelgeschossen (T) wie mit Vollmantelgeschossen (V) laboriert. Die neue, weitaus stärkere Patrone hatte jedoch ihre Tücken. Sie war stark geladen und verursachte verschiedentlich Hülsenausreisser. Deshalb wurden im Jahre 1932 Versuche mit einer Patrone mit reduzierter Ladung durchgeführt, welche sich aber nicht bewährte. Die Patronen mit reduzierter Ladung wurden mit einem dunkelroten, rund 9 mm hohen Farbstreifen auf halber Hülsenhöhe gekennzeichnet. Die konservativen Bündner Jäger, die mehrheitlich bei der alten und bewährten 102 blieben und der aufziehende zweite Weltkrieg liessen das Problem der für viele Waffen zu stark geladene Patrone etwas in den Hintergrund treten. Erst während des zweiten Weltkrieges versuchte man in Altdorf nun endlich eine Verbesserung zu erreichen. Die neue Patrone erhielt die Nummer 270.

Die Entwicklung der Bodenstempel    ( von links nach rechts )

Nr.      Typ            Codierung      Verwendung   Zündhütchen      Besonders          

obere Reihe

1       180°            keine              1919               mit Kreuz             M+F   19

2         90°            keine              1920-1929     mit Kreuz             M+FA 5/23

3       120°           Zahlen             1930               mit Kreuz             Code unbekannt

4       120°           Buchstaben    1930-1946    mit Kreuz              TT = 1933

untere Reihe

5       120°           Buchstaben     1946-1986     ohne Kreuz          QST = 1947

6       120°           Buchstaben    1946-1986     ohne Kreuz          mit Stern, CSX = 1956

7       180°    Dynamit Nobel    Wichser Glarus

8                  Wichser Glarus       Bst M+FA ausgedreht

Die 10,3 x 60 R  M+FA  Nr. 270

Die Nr. 270 wurde 1943 auf den Markt gebracht und war eine Patrone mit mittlerer Leistung. Die ersten Lose wurden in der Munitionsfabrik Thun laboriert. Die Patrone wurde vorerst mit Teilmantel- (T) und Vollmantelgeschossen (V) hergestellt und war

mit 2,9 g Blättchenpulver geladen. 1947 kam eine mit 4,0 g Blättchenpulver geladene Patrone mit H-Mantelgeschoss dazu. Diese neue Patrone bewährte sich allerdings in keiner Weise, war doch das grosse Kaliber mit Kupferholspitzgeschoss wenig geeignet. Bereits im Jahre 1948 wurde deshalb die Produktion mit H-Mantel Geschossen geladenen Patronen wieder aufgegeben. Im Jahre 1968 wurden Beschusspatronen mit einem Gasdruck von 3100 bar hergestellt. Diese erkennt man

an einem rund 5 mm breiten, roten Farbstreifen am unteren Hülsenende, gleich über dem Patronenrand. Die Patronen mit Teil- und Vollmantelgeschossen wurden bis 1986 produziert. Ein letztes Los wurde im Februar 1986 hergestellt. Als letzte von der Munitionsfabrik Altdorf Jagdpatronen musste auch diese traditionsreiche Patrone schliesslich aus Kosten- und Rationalisierungsgründen aus dem Fabrikationsprogramm gestrichen werden. Allerdings wurden noch ein grösserer Vorrat angelegt, welcher den Bedarf der Bündner Jäger noch für einige Zeit decken dürfte.

Produktionszeiten

    102   TM    1919    –   1986

    102a V       1947    –   1959

    170   T        1930   –   1948

    170   V        1930   –   1948

    170   T        1930                     reduzierte Ladung

    270   T        1943   –   1986

    270   V        1943   –   1986

    270   H        1947   –   1948

    270   T        1968                      Beschuss

Ausblick

Es ist wohl auf der Welt einmalig, dass heute noch für die Hochjagd von Gesetzes wegen ein Kaliber von über 10,2 mm vorgeschrieben ist. Wenn man allerdings die Schweizer Jäger und vor allem die Bündner kennt, dann verwundert das kaum. Man hat sich erneut für dieses Kaliber entschieden, obwohl bekannt war, dass die Munitionsfabrik Altdorf ihre Produktion aufgegeben hat. Glücklicherweise füllt die RWS die Lücke und es sieht ganz danach aus, wie wenn die Bündner Jäger noch sehr lange mit grosskalibrigen Patronen auf die Jagd gehen werden.

Werner Ramseyer